Marvin ist gestorben. Er hinterlässt uns eine Leere.
Ich kann nur für mich sprechen, aber für mich war er ein ganz besonderer Freund. Jemand, der Impulse gab, der neue Welten eröffnete.
Wir haben uns eigentlich nur selten getroffen, standen mehr oder weniger unregelmäßig in Kontakt – abgesehen von Weihnachten. Ich schickte ihm Jahr um Jahr besondere Karten, größtenteils aus einem ersammelten Postkartenstapel mit allerlei isländischen Motiven oder sonstigen skandinavischen Bezügen. Und er lud mich die letzten Jahre zu Weihnachten ein und zeigte mir neben den Weihnachtstellern seiner Großmutter die zuletzt erstandenen Bücher und Kunstwerke.
Vielleicht liegt es an dieser besonderen Freundschaft, dass ich mich noch genau daran erinnere, wie ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Es war eine Vorlesung in der Skandinavistik: nordischer Barock. In der Fachschaft raunten sich eingeweihte Studenten zu, es gäbe „den Amerikaner“. Ich war erst im zweiten Semester, Nebenfächler, kannte, wusste nicht viel. Aber in dieser Zeit saugte ich Wissen wie ein Schwamm. Eines Tages, der Professor thematisierte gerade Lieder des Barock, gab es in der Vorlesung ein besonderes Highlight: Der Skandinavistikchor sang uns vor, geleitet von „dem Amerikaner“.
Ich hab das Bild noch vor Augen, wie Marvin da vor einem Grüppchen Studenten stand und voller Engagement dirigierte, um uns jahrhundertealte Lieder auf Schwedisch vorzutragen.
Das ist 30 Jahre her.
Später bot Marvin einen Neuisländischkurs an. Altisländisch hatte ich schon vorher begonnen und für so interessant befunden, dass ich mich auch ans Neuisländische machen wollte. Der Kurs fand in einem kleinen Seminarraum im Keller statt. Er war total überfüllt, mindestens zwei Dutzend Studenten hockten da. Als Lehrbuch bestand Marvin auf den blauen Pétursson, das damals neue Buch von Langenscheidt gefiel ihm überhaupt nicht.
Das passte auch, denn der Pétursson war eine systematische Grammatik, dem Langenscheidt ging es um Dialoge. Das interessierte Marvin nicht. Ihn interessierte, wie Sprache funktioniert. Das Sprechen kam beiläufig.
Die ersten Stunden ging es allein um die Aussprache. Sitzung zu Sitzung immer nur die Fabel „Der Nordwind und die Sonne“. Den Anfang kann ich heute noch auswendig: „Einu sinni deildu norðanvidurinn og sólin um, hvort Þeirra væri sterkara.“ So ging es reihum, Satz für Satz. Und von Woche zu Woche schrumpfte der Kurs, bis am Ende des Semesters nur noch sechs Studenten da saßen.
Marvin erzählte uns von Reykjavík, davon, wie seine Lehrerin ihn dort und seine Mitschüler mal als „Krili“ angesprochen hatte, als „Krill“. Ein Pärchen, ziemliche Fantasyfans, ging eines Tages nach der Stunde mit einem englischen Taschenbuch zu Marvin nach vorn und fragten ihn, den Amerikaner, wie man wohl diesen vertrackten Titel ausspräche. Es war ein Buchstabensalat in etwa wie „Wapgsfhyr“. Marvin grinste, wie nur er es konnte, und sagte: „Ich weiß es nicht.“
Der Kurs wurde auch in den Folgesemestern angeboten, aber am Ende saßen wir nur noch zu zweit im Kurs. „Það var nú það“ war ein häufiger Satz von ihm, den ich noch heute gern wiederhole. Ungefähr in der Zeit müssen wir uns zum ersten Mal privat verabredet haben.
Wir saßen mit einem weiteren Studenten und unseren Partnerinnen und quatschten und quatschten und quatschten. Ich weiß es nicht mehr genau, aber vermutlich hat unser Umfeld damals schon nicht begriffen, worüber wir uns angeregt austauschten.
Wir trafen uns beim Belgier, wo Marvin das Tintin-Plakat bewunderte. Wir trafen uns in der Dampfe. Irgendwann zog ich nach Kiel, nach Holstein und wir trafen uns bei seinen mehr oder weniger regelmäßigen Besuchen in Schleswig, einmal auch im Haustierpark Warder, bei dem ich mich damals engagierte. Ich glaube, aus dieser Zeit habe ich auch die wenigen Fotos mit ihm, die ich besitze.
In Schleswig erzählte er einmal die Geschichte, wie er beim HNO-Arzt war, um seine Ohren reinigen zu lassen. Als er den Arzt verlassen hatte, wunderte er sich über ein kratzendes, schabendes Geräusch, das er nicht einordnen konnte. Schließlich stellte er fest, dass es nur seine knisternde Jacke war, die er vor dem Arztbesuch einfach nicht mehr gehört hatte.
Als ich Jahre später aus Norddeutschland zurück nach Essen zog, trafen wir uns ziemlich bald im Bliss, damals am Giradetzentrum. Seine Frau war noch dabei, aber irgendwie merkte ich, dass etwas nicht stimmte.
Dieser Eindruck verstärkte sich bei seinem 50. Geburtstag, den er danach zusammen mit einem Freund im Friedrich-Ebert-Bad in Oberhausen feierte. Es war die größte Party, die ich zu so einer Gelegenheit erlebt habe. Marvin begrüßte mich da begeistert, was mich etwas überraschte. Er stellte mir kurz seinen Bruder vor. Marvins Frau war ebenfalls da, aber ich habe beide an dem Tag nie zusammen gesehen. Kurz danach trennten sie sich.
Der ein oder andere wird wissen, dass Marvin damals noch überlegte, sich zu habilitieren. Fin de siècle war sein Thema, das Kapitel über den Faun hatte er fast abgeschlossen. Bevor er sich trennte, begann er, diesen Manuskriptschatz in einem Möbellager in Sicherheit zu bringen. Seine Frau freute sich, sie dachte, er entsorgte die Unterlagen, sie dachte, er hätte endlich eingesehen, dass das Projekt zum Scheitern verurteilt war.
Sie hatte zwar Recht, aber sie hatte nichts verstanden.
Ich bekam einen Anruf im Büro. Marvin. Ob ich ihm beim Umzug helfen könnte. Klar, wann? Heute. Okay, ich bin um 18 Uhr am Bahnhof Essen. Okay, ich hol dich ab.
Marvin wartete in einem Mietlieferwagen auf mich. Es waren lediglich ein paar sperrige Möbel auf der Ladefläche, die er bereits mit jemandem eingeladen hatte. Er brauchte nur jemanden, der ihm half, sie in die neue Wohnung in Gelsenkirchen hochzutragen.
Ähnlich spontan musste ich ihn Jahre später für einen Umzug anhauen, weil ich kurz vorher mit einem Teil meines Freundeskreises gebrochen hatte.
Die Wohnung in Gelsenkirchen war nett, aber letztlich nicht gut. Sie war in einer Siedlung, die einen Blick auf eine große Halde gewährte. Die Außenwand des Schlafzimmers wurde gedämmt, unter der Dämmung war ein Holzgerüst angebracht worden und in diesem Holzgerüst saßen Totenuhrkäfer, mehr oder weniger auf Höhe des Kopfendes von Marvins Bett. Es hat lange gedauert, bis die Ursache des „komischen Geräuschs“ gefunden wurde.
Obwohl wir nach meiner Rückkehr aus Norddeutschland wieder näher beieinander wohnten, trafen wir uns weiter eher sporadisch. Mal in Essen, mal in Gelsenkirchen. Mal in einer Kneipe, mal beim Rü-Fest.
Ich erinnere mich an einen besonderen Abend, an dem ich mit einem Freund und einer Freundin ins Soul ging, weil dort eine Burlesque-Show stattfand. Ich rief Marvin kurz vorher an, schlug ihm vor, vorbeizukommen. Er kam. Und ich glaube, er hatte einen unterhaltsamen Abend. Die vollbusige Tänzerin schäkerte ihn mit Blicken an, später in der musikalisch untermalten Pause tanzte er mit der Freundin.
Nach dem Theater mit der Wohnung in Gelsenkirchen zog er nach Herne. Auch hier blieben unsere Treffen sporadisch, aber wir verloren uns nie ganz aus den Augen. Die schlimmste Zeit war eigentlich die Coronazeit, aber das erste Treffen danach war intellektuell genauso intensiv wie unsere Treffen zuvor. Was wir besprachen, was er anregte, beschäftigte mich in der Regel monatelang, manche Themen bis heute.
Das Persönlichste, was er jemals mit mir teilte, war der Nachruf auf seine Mutter, verbunden mit einem Foto, auf dem sie als junge Frau einen Löwen auf dem Arm hielt. Irgendwie war es ihm wichtig, es mir zu schicken und mir von ihr zu erzählen.
Marvin war faszinierend. Ich weiß nicht, wie viele Sprachen er sprach, aber es müssen viele gewesen sein. Englisch natürlich. Als Schüler hatte er sich selbst den Beowulf übersetzt. Deutsch sprach er besser als viele Deutsche. Dänisch nannte er mir gegenüber mal seine Hauptfremdsprache. Französisch hatte er zumindest in der Schule begonnen. Er hatte mir erzählt, dass der offizielle Unterricht anfangs daraus bestand, dass sie ihn und die anderen Schüler vor einen Fernseher mit Französischunterricht setzten. Schwedisch, Norwegisch konnte er sowieso. Isländisch sprach er fließend, verbrachte auch ein Jahr in Reykjavík. Als ich in Kiel noch zwei Semester Isländisch lernte, war das bei einem Isländer, den Marvin kannte. Þorír und er hatten sich in Reykjavík kennengelernt.
Ich weiß es nicht genau, bin mir aber sicher, dass er noch mehr konnte. Bei Tolkien konnte er mindestens einen Großteil der Namen auf nordische, keltische oder sonstige Ursprünge zurückführen und erklären.
Zuletzt begann er Polnisch zu lernen. Er erzählte mir von grammatischen Besonderheiten, wie er sie mir früher für Isländisch erklärt hatte. Er hatte seine Freude daran.
All sein sprachliches Talent, all sein Wissen über Skandinavistik brachte ihm beruflich nichts. Einerseits hing er in der Lücke, dass sein Ph.D. mehr wert war als unser Doktor, aber weniger als eine Habil. Andererseits wurde in der Zeit der wissenschaftliche Mittelbau gestrichen. Und zuletzt unterlag die Skandinavistik wie alle Nischenfächer einem mafiösen Hauen und Stechen, für das Marvin einfach nicht gemacht war.
Schließlich verlegte er sich auf seine andere Liebe, auf die Musik. Er war, soviel ich weiß, kein Komponist, konnte aber arrangieren. Vielleicht war er auch kein Virtuose, das kann ich nicht beurteilen. Aber er spielte noch mehr Instrumente, als er Sprachen sprach. Er sagte mir einmal, dass er jedes Instrument einer Big Band spielen könnte. Bevor seine Mutter starb, erzählte er von einem Container in den USA, in dem noch die meisten seiner Instrumente lagerten.
Marvin hatte auch immer viele Eisen im Feuer, spielte zeitweise parallel in verschiedenen Bands, kannte viele Musiker und gab Unterricht. Teilweise in dem JeKi-Programm bzw. den Nachfolgern, teilweise auch privat. Privat bekam er auch Anfragen, Musikunterricht auf Englisch zu geben („… damit der Junge auch gleich Englisch übt“), was er aber ablehnte.
Besonders stolz war er darauf, dass er einmal vor Paul Kuhn spielen durfte.
Marvin verstand sich auch auf Literatur, natürlich. Wenn wir uns trafen, ging es nicht nur, aber immer auch um Bücher. Was ich las, schien ihn zu interessieren, ergänzte seine Welt. Was er las, waren für mich Tore in eine andere Welt.
Kino und Kunst mochte er auch, er kaufte gern eine Collage oder ein Bild, das ihn auf einer Vernissage fasziniert hatte. Wenn er später feststellte, dass er die Collage falsch aufgehängt hatte, weil sie in der Sonne total ausgeblichen war, fand er es schade, konnte aber damit leben. Das gehörte wohl zu seiner Bescheidenheit.
Marvin war sicher kein Heiliger. Er konnte bestimmt auch ungeduldig sein, zu sich, zu seiner Umgebung. Ich hab meiner Schwester von seinem Tod geschrieben. Sie hatte ihn bei zwei Gelegenheiten „kennengelernt“: mein Umzug und die Taufe meiner Tochter, wo er das Piano spielte. Als sie hörte, dass er gestorben sei, antwortete sie, sie habe ihn als so einen bescheidenen und lieben Menschen erlebt.
Das trifft den Marvin, den ich kannte, sehr genau. Ich kenne ihn nur freundlich und aufgeschlossen, nie zornig. So offen wie er für vielerlei war – Klettern, Yoga – so war er auch zu Menschen. Ich finde ihn nach wie vor bewundernswert.
Es gibt ein Internet-Meme: People who show you new music are important.
Das ist nicht der einzige Grund, warum ich Marvin nicht vergessen werde. Aber es ist ein Grund, warum ich für den Rest meines Lebens mit ihm verbunden sein werde. Manchmal wenn wir uns getroffen haben, haben wir einfach lange vorm Rechner gesessen und uns gegenseitig Musikvideos gezeigt. Surfrock wie die Messerchups, die Straycats, Eddie Angel, Graham Bond, Ginger Baker und Rodriguez, um nur einige zu nennen.
Die letzte Inspiration, die er mir kurz vor Weihnachten schickte, betraf aber Literatur. In einer zweiteiligen E-Mail schrieb er mir von seiner Begeisterung, die er gerade bei Shelley erlebte. Er schickte Auszüge, mit Übersetzung und Quellenangabe. Die Mail war so lang und akademisch, dass ich vor ihrer Beantwortung in eine Art Schreibstarre verfiel. Mir war klar, dass ich sie nicht nebenbei beantworten könnte, dass ich mir Zeit für die Antwort nehmen, sie dann aber in einem Rutsch schreiben müsste. Letztes Wochenende war es so weit. Ich schloss die Mail mit dem Wunsch, dass wir uns dringend wieder treffen müssten, gern bei einem Konzert oder einer Vernissage. An diesem Wochenende lag Marvin im Sterben.
Meine Freundschaft mit ihm mag locker gewirkt haben. Für mich war sie stets intensiv und wichtig. Er war eher wie ein Mentor, zu dem ich aufgeblickt habe.
Marvin bleibt einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben.
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