Die Beerdigung meines Vaters war nicht die erste gewesen, die ich erlebt habe. Etwa ein Jahr zuvor war mein Opa väterlicherseits gestorben. Er hatte einen Schlaganfall gehabt, da stand er gerade hinter der Couch und klappte zusammen. Er kam ins Krankenhaus, aber nicht ins Klinikum, sondern es muss das Haus Huyssens Stiftung gewesen sein. Ich erinnre mich nur sehr wenig an diese Zeit, weiß aber noch Bilder vom letzten Besuch, bevor er starb. Es war um seinen Geburtstag herum, er konnte weder laufen noch sprechen. Er lag am Kopfende des Zimmers, direkt vor dem Fenster. Mein Opa lag halb auf der Seite, sein Kopf, sein Blick zu uns gerichtet, als wir reinkamen. Und als er uns sah, blickte er mich an und begann stumm zu weinen. Es war fast, als hätte er gewusst, dass es das letzte Mal war, dass ihn sein Stammhalter, der seinen Namen weitertragen sollte, besuchte. Nachdem er gestorben war, klinkte sich das Hirn seiner Frau komplett aus dieser Welt. Alzheimer oder sonst was schlug endgültig ein. Meines Vaters Mutti wusste kaum, wer sie war, wo ihr Mann war, was sie zu tun und zu lassen hatte. Sie versteckte Geld im Kleiderschrank zwischen der Wäsche, spülte (höchstwahrscheinlich) auch eine dreistellige Summe das Klo herunter, glaubte zudem, alle 5 Minuten pinkeln zu müssen, konnte sich aber selbst weder aus- noch anziehen. Meine Schwester und ich beschlossen nach der Beerdigung, dass unser Opa auf dem Grab ein Kreuz mit Inschrift bräuchte. Der Grabstein war noch nicht fertig und so nahmen wir uns armlange Bretter und zimmerten ein Holzkreuz zusammen, auf das wir den Namen unseres Opas schrieben. Meine Mutter fand das furchtbar, lehnte auch sofort ab, das Kreuz auf dem Grab zu errichten. Mein Vater dagegen erkannte, dass die Beschäftigung damit für uns Kinder wichtig war. Er ermunterte uns weiterzumachen, aber aufgestellt wurde das Kreuz natürlich trotzdem nicht.
Seit dieser ersten Beerdigung habe ich inzwischen an zahlreichen Beerdigungen teilgenommen. Als Enkel, Kind, Schüler, Freund – aber nie habe ich so viele Menschen auf dem Friedhof erlebt wie bei meinem Vater. Nur in der Kapelle war die Familie zusammen mit den besten Freunden allein. Der Pastor, der die Trauerpredigt hielt, war unserer Familie gut bekannt. Der Unsinn, den er bei der Feier erzählt hat, hat mich schon damals von diesem Glauben entfremdet, der in jedem Mist, der passiert, den „weisen Ratschlag“ sieht, den wir eben nur nicht verstehen – egal ob man früh Halbwaise wird, eine Katze überfahren wird oder sechs Millionen Menschen vergast werden. Aber es ist natürlich immer bequem, wenn man selbst keine Schuld an irgendwas hat, sondern der Herrgott die medizinische Behandlung verpatzt, das Steuer eines Besoffenen lenkt oder scheinbar harmlose Kleinbürger zu erfolgreichen Massenmördern macht.
Meine Schwester und ich hatten bei der Beerdigung meines Vaters versucht, zur Aufbahrungshalle zu gehen. Mein Opa mütterlicherseits entdeckte uns frühzeitig, versperrte uns den Weg und schob uns in Richtung Kapelle. Er wollte nicht, dass wir einen Toten sehen. Ironie der persönlichen Geschichte ist, dass derselbe Opa der erste Mensch war, den ich tot gesehen habe, wenn auch erst viele Jahre später. Abgemagert hatte er ausgesehen, ausgezehrt vom Krebs, der ihm von der Lunge ausgehend den Körper mit Metastasen verseucht hatte. Der kleine Kopf lag nach hinten gekippt, der Mund offen, leicht verkrampft. An einen toten Vogel hatte er mich damals erinnert, so wie ich mal einen auf dem Hof entdeckt hatte. Ameisen und Maden krochen durch den Federbalg und erledigten ihre Arbeit, nahmen früheres Leben auf, um es weiterzugeben.
Ich glaube nicht, dass es Zufall ist, dass ich später als Archäologe Tote ausgegraben habe. Das war ein Teil des An-Altem-Festhaltens, so wie ich auch heute noch Möbel von meinem Vater habe.
Die weiß-schwarze Stehlampe aus den 60ern zum Beispiel. Objektiv kaum das schönste Exemplar ihrer Gattung. Ihr Wert ist ein sentimentaler. Das gilt noch mehr für den Wohnzimmertisch, an dem ich mit meinem Vater gespielt habe und er mir die Haare gestreichelt hat. Das gilt aber auch für den Schreibtisch meines Vaters. Das heißt, ich benutze ihn heute als Schreibtisch, eigentlich ist es nämlich ein Zeichentisch, dessen Arbeitsfläche man kippen kann. Er stand jahrelang auf dem Boden und wurde zum Bügeln benutzt, bis ich ihn mir genommen habe. Oder die hässliche Bank, auf der heute mein Fernseher steht so wie vor mehr als 30 Jahren der orangene TV-Kasten in der Bar. Oder das jahrzehntealte emaillierte Küchensieb meiner Oma väterlicherseits, in dem ich heute noch meine Spaghetti abgieße.
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