Mein Vater war nie beim Barras. Die Familie war sich uneinig wegen der Gründe. Die einen sagten: Bei der unseligen Wiederaufrüstung war er schon zu alt gewesen. Die anderen sagten, er sei gemustert und für untauglich befunden worden. Onkel Heinz sprach in diesem Zusammenhang sogar von einem Herzfehler, der damals entdeckt worden sei. Onkel Heinz war der Patenonkel meiner Schwester. Meine Mutter sagte immer wieder mal, dass Onkel Heinz eine Art Ersatzvater für uns Kinder wurde, nachdem unser Vater gestorben war. Ich kann nicht sagen, wie meine Schwester das über die Jahre sah, aber für mich war er nie ein Ersatzvater. Heinz war eher ein sehr guter älterer Freund, jemand, dem man vertrauen konnte, den ich aber zu selten sah, um ihm irgendeine anders geartete familiäre Rolle zukommen zu lassen. Wenn ich allein daran denke, dass ich ihn einige Jahre überhaupt nicht gesehen hatte, als ich in Norddeutschland studierte. Und dann, als ich zum ersten Mal wieder seinen Geburtstag bei ihm mitfeierte, da erschrak er, als ich in der Tür stand, weil er im ersten Moment gedacht hatte, seinen verstorbenen Cousin, meinen Vater, vor sich stehen zu haben. Der Schreck verflog schnell und er freute sich merklich.
Er konnte aber mit seinen riesigen Schreinerhänden auch recht rabiat werden. Wenn er wütend wurde, rief er: „Gleich is aber Panhas am Christbaum!“ Und als Onkel Heinz und Tante Irmchen mal ein paar Tage auf meine Schwester und mich aufpassten, spielte meine Schwester am Küchentisch mit einer Kerze herum und Heinz las Zeitung und warnte sie noch, sie solle bloß aufpassen. Aber sie passte nicht auf, warf die Kerze um und goss das flüssige Wachs über die Zeitung und auf die Hose von Onkel Heinz und er wurde richtig sauer und schlug meiner Schwester kräftig auf den Hintern, bevor er sie nach oben in ihr Zimmer schickte. Ich ging mit und meine Schwester heulte und ihr Hintern tat ihr so weh, dass sie sich die Hose auszog und wir zusammen vor einem Spiegel guckten und da war deutlich der Handabdruck von Onkel Heinz auf dem Hintern zu sehen, jeder einzelne Finger.
Aber in einer Hinsicht, da weiß ich wirklich, was ich an ihm hatte. Bei einer Feier, da muss ich Quartaner gewesen sein, da nahm er mich zur Seite und sagte: „Du gehst jetzt aufs Gymnasium, studierst hinterher bestimmt. Deswegen bist du aber kein besser Mensch als jemand, der nur die Hauptschule besucht und eine Lehre gemacht hat. Vergiss nie, wo du herkommst. Dein Opa war auch ,nur‘ Schreiner.“
Dieses so simpel wirkende Menschenbild ist mir immer Kompass im Leben gewesen. Es war der Grund, warum ich mich weigerte, diesen Stallgeruch loszuwerden, den man an sich hat, wenn man aus einer kleinbürgerlichen Familie aus einer Arbeitergegend kommt und nicht in dritter Generation Akademikerkind ist. Vielleicht war das einer der Gründe, warum ich nicht in diesem Kreis der Elfenbeinforscher aufsteigen konnte. Mir waren die Arbeiter bei meiner Arbeit immer wichtiger als die aufgeblasenen Wichtigtuer, deren Hauptbeschäftigung in Händeschütteln und Kopfnicken sich erschöpft, weil sie nämlich in Wirklichkeit keine Ahnung von dem haben, über das sie tagtäglich entscheiden.
Diese Lektion bekam ich von Onkel Heinz, als er schon im DRK-Hochhaus lebte mit seiner Frau, Tante Irmchen. Hier gab es Ärzte, schnell erreichbar, und Pflege bei Bedarf. Vorher wohnten sie in einem Haus in Essen-Kray, das anders als heruntergekommen man nicht nennen konnte. Klo auf halber Treppe. Im Wohnzimmer ein Ofen, wie ihn Alfred Tetzlaff hatte, die Wanne in der Küche, meist mit einer Platte bedeckt. Hier standen auch unsere Karnickel, auf die Heinz und Irmchen einmal aufpassten, als wir vermutlich auf Texel oder in Malente waren. Und die Karnickel trommelten nachts mit ihren Hinterpfoten und machten ihre Musik und weckten Irmchen und Heinz in ihrem Bett, in denen sie mal Wanzen gehabt hatten, ganz zerstochen waren sie da Nacht für Nacht, auch im Gesicht, bis die Übeltäter entdeckt waren. Und beide hatten keine Kinder, nur eine Fehlgeburt hatte Irmchen mal gehabt, und Heinz erzählte während eines Fernsehfilms einmal, wie er seine Frau auf den Küchentisch gehoben hatte und hoch die Schabracken. Und anstelle von Kindern hatten sie eben einen Hund. Mohrle, den schwarzen Spitz, der immer furchtbar kläffte, was alle nachmachten, wenn er zu Geburtstagsfeiern mitkam und uns dann die Wohnung vollpisste, weil er vor Heidi, der Dackeldame meiner Oma väterlicherseits, markieren wollte. Und die Karnickel, die bekamen meine Schwester und ich, nachdem wir an einem Tag der offenen Tür bei der Eröffnung des neuen U-Bahnhofs am Hauptbahnhof Essen waren. Da war auch ein Karnickelzüchter und meine Schwester und ich fanden die Karnickel toll und wollten eins haben. Aber mein Vater kaufte sie nur nicht da, auch nicht in dem abartigen Zooladen im Rhein-Ruhr-Zentrum, in dem im Schaufenster immer Dackelwelpen tollten und in dem ich das Prinzip „Aquarium, Schatzkiste, Taucher“ kennen und so zu schätzen lernte, dass ich ein Aquarium haben wollte, aber nie hatte. Nein unser Vater fuhr einige Tage später mit uns zum Züchter und wir suchten uns hier Karnickel aus. Und meine Schwester wählte ein schwarzes phlegmatisches Karnickel und nannte es Schnucki. Und ich wählte ein eher buntes, graues, weißes, irgendwie gefärbtes Karnickel. Und als ich auf dem Rückweg vom Züchter gefragt wurde, wie ich es nennen wollte, da fiel mir so schnell nichts Besseres ein und ich sagte im Auto „Hasi“. Und Schnucki war ein kränkliches Tier und einmal fuhren meine Eltern mit ihm zum Züchter, der meinte, er macht es nicht lange mehr und gaben meinen Eltern ein anderes schwarzes Karnickel mit. Aber meine Schwester, die merkte es natürlich sofort. Hasi dagegen war stark und überlebte sogar die Attacke einer Scheißtöle, die irgendwelche Freunde meines Vaters hatten. Und als Hasi mit Bisswunde und Puls 2000 und weit aufgerissenen Augen da lag, sagten die Freunde, sie würden mir ein neues kaufen, wenn Hasi stürbe, aber ich wollte kein neues Karnickel, ich wollte Hasi, denn zu diesem Zeitpunkt waren mein Vater und mein Opa väterlicherseits schon tot gewesen, und Hasi überlebte.
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