Mein Vater (9)

Mein Vater hat gern gespielt. Vor allem Karten und manche Brettspiele. Zusammen mit meiner Schwester lernte ich von ihm und meiner Mutter Rommé, vielleicht auch Mau-Mau, obwohl ich das eher mit meiner Oma mütterlicherseits gespielt habe. Mit meiner anderen Oma habe ich nie etwas gespielt, zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Mit meinem Vater spielten wir auch Mühle, Dame und Monopoly. Vor allem Mühle und Dame spielte er viel besser als ich und wenn er mit den schwarzen Steinen gewann, wollte ich beim nächsten Spiel die schwarzen Steine, weil das ja offenbar Siegersteine waren, aber dann gewann er mit den weißen Steinen und ich wollte die weißen Steine, aber verlor trotzdem. Gespielt haben wir meistens im Wohnzimmer mit den Boxen, der großen Couch und dem Kamin. Auf dem Sims des Kamins lagen allerlei Sachen, darunter verkupferte Kinderschuhe von meiner Schwester und mir, die hatte Onkel Peter, der Schulfreund meines Vaters, verkupfert, der war nämlich Chemiker geworden. Aber es lag da auch der Zündkopf einer Fliegerbombe aus dem zweiten Weltkrieg, aufgearbeitet und poliert, und man konnte sehen, wie die Bombe gelandet war, weil oben ein Stück verbogen war, als die Bombe da landete und nicht zündete, wo mein Vater ein Vierteljahrhundert später Gebäude für das Klinikum Essen bauen würde. Und von der Entschärfung gab es Fotos mit den Bauverantwortlichen in der Zeitung und mein Vater war auch darauf, so wie ich später mit all meinen Ausgrabungen, weil jedes blöde Lokalblatt froh ist, so billig die Seiten zu füllen, und dazu furchtbaren Unsinn schrieb, der nichts mit dem zu tun hatte, was ich den Reportern erzählt hatte. Und rechts neben dem Kamin waren niedrig platzierte schwere schwarze Steinplatten, darauf lag ein großer dunkelroter Stein und der war schrecklich schwer, aber mein Vater konnte ihn heben, denn mein Vater war der stärkste Mann der Welt für mich, als ich klein war, und ich ließ mir oft seinen Bizeps zeigen oder versuchte mich im Armdrücken mit ihm, obwohl ich wusste, dass ich keine Chance hatte. Und unter den Schieferplatten lag Feuerholz für den Kamin, natürlich nur die getrockneten Scheite, die vorher in der Garage unten gelegen hatten. Und ich war lange überzeugt, dass unter den Steinplatten Gespenster wohnten, obwohl ich nie eins gesehen oder gehört hatte, ließ ich mich nicht von diesem Glauben abbringen. Da half es auch nicht, wenn mein Vater oder Onkel Peter mir erklärten, dass es keine Gespenster gab, ich lief trotzdem immer ganz schnell an den Platten vorbei, wenn ich allein war.

Und auf der Couch lag oder saß mein Vater und spielte mit uns oder machte ein Mittagsschläfchen, wenn er Zeit dazu hatte. Und manchmal saß ich bei ihm, während er döste, und er streichelte meine Haare und legte vorsichtig Strähne um Strähne über mein Ohr, so dass es auf dem Kopf kribbelte, und ich versank wie in Trance, obwohl ich weder das Wort noch seine Bedeutung kannte, und ich bat meinen Vater, immer weiterzumachen, immer wieder von vorn anzufangen. Und dabei saß ich neben dem flachen Wohnzimmertisch, den ich heute noch habe, obwohl er nicht mehr besonders schön ist, und vor dem wir Kinder an Weihnachten mit unseren Geschenken spielten, zum Beispiel mit dem Piratenschiff von Playmobil, während hinter uns das Feuer im Kamin knisterte und Funken springen ließ.

Zum letzten Weihnachten mit meinem Vater hatten meine Schwester und ich Walkie-Talkies bekommen. Und meine Schwester schenkte mir eine 3-Fragezeichen-Kassette, die flüsternde Mumie, meine erste 3-Fragezeichen-Kassette. In dem Hörspiel geht es um Archäologen und meine Schwester hatte die Kassette in einem riesigen Karton verpackt, so dass ich ein riesiges Geschenk erwartet hatte. Aber eigentlich war es auch ein riesiges Geschenk, weil ich damals angefixt wurde und viele 3-Fragezeichen-Kassetten und -Bücher folgen sollten. Und weil ich die flüsternde Mumie heute noch mitsprechen kann, spaßeshalber sogar einzelne Zitate auf Ausgrabungen fallen ließ (z.B. „ich war einmal drei Tage in einer Grabkammer verschüttet und seitdem …“). Dagegen kann ich andere Kassetten nicht mehr mitsprechen, beispielweise die 5-Freunde-Kassette, die mein Vater mir mal geschenkt hatte, die Folge 5, das weiß ich noch, weil ich vor der Kasse Angst hatte, dass wir die Hörspielreihe vielleicht nicht mittendrin kaufen dürften und der Verkäufer uns verbieten könnte, solange wir nicht die Folgen eins, zwei, drei und vier kaufen würden, natürlich in dieser Reihenfolge. War ich eigentlich Autist? Bin ich einer? Aber der Verkäufer fragte natürlich nicht und so hörte ich die Kassette gern, bis ich die drei Fragezeichen kennen und schätzen lernte.

Aber unsere Eltern spielten nicht nur mit uns Kindern. Sie spielten auch Rommé mit meinem Onkel, seiner Frau und dem Ehepaar vom Musikhaus. Hier spielten sie um Geld, das kam in einen Topf, und mit dem Geld fuhren sie gemeinsam irgendwo hin. Gespielt wurde reihum bei einem Ehepaar und wenn bei uns gespielt wurde, stellte meine Mutter auf den Esszimmertisch eine Etagère mit Knabberkram und einmal legte mein Vater jedem ein Stück Frolic oder Trim auf den Teller und tat so, als sei das tolles neues Knabbergebäck, und lachte laut, als die anderen darauf hereingefallen waren. An diesen Abenden spielten sie nicht im Wohnzimmer, sondern im Esszimmer mit dem runden Tisch, den schrecklicken grün gepolsterten Stühlen und dem wuchtigen Sideboard. So hässlich sie waren, waren die Stühle meine besten Freunde, sobald ich lesen konnte, weil ich sie nämlich brauchte, um an den großen Brockhaus zu gelangen, der im Raumteiler zwischen Esszimmer und Flur ganz oben stand. Immer wenn ich etwas wissen wollte, das nicht in meinem Kinderlexikon erklärt war, nahm ich einen Stuhl, schob ihn an den Raumteiler und holte mir den entsprechenden Brockhausband vorsichtig herunter. Ich legte ihn auf den Tisch und las natürlich immer wesentlich mehr, als ich eigentlich nachschauen wollte. Völlig fasziniert war ich von den Unterschriften berühmter Menschen. Lange dachte ich, dass man damit ja ihre Schecks fälschen und unermesslich reich werden könnte, weil ich von unserer Bank wusste, dass die richtige Unterschrift für Geld sorgen konnte am Geldschalter mit dem strengen Bankangestellten, dessen Namen ich vergessen habe. Und links und rechts und auch im Regal, in dem die Stereoanlage stand, gab es Bücher, und mein Vater sagte immer, es seien genug, um bis zur Rente zu lesen, aber das war Unsinn, weil ich heute schon wesentlich mehr Bücher gelesen habe und noch lange keine Rente bekomme. Und es waren Bücher zum Film, über das Wunder Geburt und viele Bücher aus der Bibliothek Heinemann, weil eine Dame aus unserem Haus dessen Sekretärin gewesen war und nach Heinemanns Tod einen winzigen Teil aus dessen Bibliothek bekommen hatte, von dem wiederum ein noch winzigerer Teil in unsere Bibliothek gewandert ist. Das Meiste davon waren leider doofe Fachbücher, weshalb wir sie inzwischen auch abgegeben haben, aber irgendwo habe ich noch ein original Ex-Libris der Heinemann-Bibliothek, das in einem Buch noch nicht festgekleistert gewesen war.

Außer zum Rommé wurde das Esszimmer nur zu Kaffee und Kuchen an Geburtstagen genutzt und an Weihnachten und Silvester gab es hier das Festessen. Sonst saßen wir zum Essen am Über-Eck-Tisch der offenen Küche auf der anderen Seite des Raumteilers. Hier in der Küche hatte ich mal als kleines Kind einen kräftigen Schluck aus einer Flasche Tabasco genommen, die mein Vater da stehengelassen hatte, und ich schrie: „Mein Mund! Mein Mund!“ Vermutlich macht mir deswegen scharfes Essen auch heute noch eher wenig aus. An diesem Tisch saß mein Vater der Eingangstür am nächsten, rechts neben ihm meine Schwester, rechts über Eck meine Mutter und wiederum rechts über Eck ich. Wenn mein Vater unterwegs war, beruflich oder zwecks Freizeit, war ich der Mann im Haus und durfte auf seinem Platz sitzen. Aber da ist mir mal ein Bild auf den Kopf gefallen, weil ich da so herumgetobt habe, dass ich mit dem Kopf gegen die Wand knallte und das Bild herunterfiel.


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