Andreas Kinast, „Das Kind ist nicht abrichtfähig“ – Euthanasie in der Kinderfachabteilung Waldniel 1941–1943

Wie ich neulich schilderte, ist nicht ausgeschlossen, dass meine Familie mehr oder weniger von Euthanasie betroffen war, wenn auch der Grad selbst nicht mehr zu klären ist. Autor Kinast lernte ich bei einer Führung auf dem Gelände der ehemaligen Kinderfachabteilung Waldniel kennen. Dort erzählte er auch von seinem Buch, das damals sprichwörtlich frisch vergriffen war (den letzten Band hatte er wenige Minuten zuvor einem Lokalpolitiker verkauft). Im Zuge unseres kurzen Kontakts bat ich ihn, mich darüber zu unterrichten, wann es eine Neuauflage geben würde.

Als ich das Buch schließlich bekam, lieh meine Mutter es sich zuerst aus. Sie war verständlicherweise besonders daran interessiert, was mit Kindern wie ihrem älteren Bruder damals passierte. Und nach der Lektüre war sie umso entsetzter. Leider erlaubte es mir meine immer schlechter werdende Zeitplanung lange nicht, mit der Lektüre zu beginnen, aber vor kurzem war es dann so weit. Wie zuvor meine Mutter war nun auch ich umso entsetzter.

Kinast, der immerhin kein studierter Historiker ist, hat hier nach ausführlichsten Studien in Archiven Informationen zusammengestellt, vor denen ich als promovierter Wissenschaftler nur den Hut ziehen kann (ich kenne jedenfalls Arbeiten, die deutlich schlechter recherchiert und geschrieben sind, aber trotzdem für einen guten Abschluss reichten). Fundiert und detailreich schildert er, welche Grundlagen es für die Euthanasie gab, welche Ärzte und Funktionäre darin verwickelt waren. Er stellt beispielhaft ausgewählte Opfer und deren Angehörige vor sowie verantwortliche Pflegerinnen. Außerdem macht er deutlich, wie die frisch gegründete Bundesrepublik mit der Euthanasie und ihren Protagonisten umgegangen war. Wo es noch möglich war, sprach er direkt mit Opfern und Tätern, wo nicht, versuchte er zumindest über Nachkommen und Verwandte an Informationen zu gelangen.

Persil wäscht auch Kittel rein

Ja, dass Nazis direkt nach dem Krieg fleißig alte Seilschaften für Persilscheine nutzten und westlich der Elbe auch ohne größere Verzögerung wieder in entscheidende Positionen kamen, war mir allgemein nicht neu. In diesem speziellen Fall sind die Abläufe aber vielfach noch widerlicher.
Nachdem erste Fälle ruchbar wurden, dass staatliche Stellen „unwertes Leben“ vernichteten, gab es starken Widerstand von der Kirche, besonders durch den Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen (nebenbei: zur Abwechslung mal ein positives Beispiel dieses Vereins). Danach wurde die Reichskanzlei vorsichtig und arbeitete lediglich mit einem Runderlass. Außerdem wurde die Euthanasie eher still durchgeführt, also nicht mehr durch Vergasung, sondern durch die medikamentöse Förderung von Krankheiten, die Unterversorgung und miserable Ausstattung von Kinderheimen. Es gab also im dritten Reich anders als bei der Verfolgung anderer Minderheiten kein Gesetz, das die Euthanasie erlaubte – daher konnte sich hinterher kein Arzt auf irgendeinen Befehlsnotstand herausreden. Das Glück der meisten Ärzte und Pflegerinnen bestand nun darin, dass sie die Todesumstände so geschickt verborgen hatten, dass man ihnen auch hinterher nur wenig direktes Töten nachweisen konnte. Dabei deckten sich vor allem die Ärzte gegenseitig selbst und landeten so schnell wieder auf Entscheiderpositionen in der medizinischen Versorgung Westdeutschlands. Trotzdem gab es auch Ausnahmen, so wie den Waldnieler Arzt Wesse. Der hatte, nachdem er von Waldniel in eine hessische Fachabteilung versetzt worden war, schriftlich um Nachschub für die Euthanasie gebeten. Das kann man angesichts der Rechtslage in den 40er-Jahren einerseits schon nicht mehr anders als dämlich nennen. Andererseits war es für die Gerechtigkeit natürlich ein Glücksfall, weil auf diese Weise wenigstens einem der zahllosen involvierten Unmenschen die Verantwortung für den Tod vieler Kinder nachgewiesen werden konnte.

Wenigstens ein Fall von Gerechtigkeit

Wesse, der sich zudem offenbar den Doktortitel erschlichen hatte, verbrachte etliche Jahre hinter Gittern. Da für seinen Fall zwei Bundesländer verantwortlich waren (NRW und Hessen) entstand zusätzlich Chaos bei seinen Anträgen auf Begnadigung, sodass er besonders lange für seine Taten büßen musste. Kollegen konnten sich dagegen entsprechend decken, dass sie nichts gewusst hatten, oder am besten noch Widerstand aus dem System heraus geleistet hätten. Andere waren bei neuen Ermittlung Anfang der 60er-Jahre körperlich so krank, dass sie Atteste über Verhandlungsunfähigkeit vorlegen konnten, anschließend aber noch gesund und munter weitere dreißig Jahre auf dem Erdenball verbrachten (der geneigte Leser mag sich ausmalen, wie ein mordender Mediziner zu einem entsprechenden Attest kommt, ich persönlich hab da eine Theorie).

So sehr mich das Durchgreifen der Gerechtigkeit im genannten Fall freut, so sehr widert es mich also an, dass Hunderte Täter aus diesem Bereich schon Anfang der 50er-Jahre wieder fleißig praktizierten und oftmals als Kinderarzt tätig waren. Was müssen das für Menschen gewesen sein?
Zurück zum Buch: Abgesehen von einer persönlichen Betroffenheit kann ich es jedem empfehlen, der mehr über das Euthanasieprogramm im dritten Reich erfahren möchte. Das Buch kann direkt beim Böhlau-Verlag bestellt werden.

Kommentare

10 Antworten zu „Andreas Kinast, „Das Kind ist nicht abrichtfähig“ – Euthanasie in der Kinderfachabteilung Waldniel 1941–1943“

  1. […] noch im passenden Archiv vorstellig zu werden. Dafür fand ich mittlerweile die Zeit, mir das Buch » Das Kind ist nicht abrichtfähig von Andreas Kinast zu lesen. Bevor ich es demnächst in dieser Runde besprechen werde, wollte ich […]

  2. Avatar von Gabriele Macagnino
    Gabriele Macagnino

    Sehr geehrter Herr Kinast,

    ich bin auf Ihre Seite gestoßen, nachdem ich so lange rumgeirrt bin.Meine Großmutter war ein Euthanasie – Opfer.Sowohl auch meine Mutter.Meine Großmutter wurde im November 1935 in die Nervenheilanstalt Warstein/Suttrop mit der Diagnose Schwachsinn und Schizophrenie eingeliefert. Meine Mutter ist im Juli 1936 in Suttrop geboren. Nachdem meine Großmutter am 14.08.1941 nach Eichberg deportiert wurde mit weiteren 78 Patienten aus der Nervenheilanstalt. Meine Mutter ist damals wieder zurück zu meinem Großvater, und Ihren 3 Schwestern zurück gekehrt.Jetzt meone Frage an Sie: Können Sie mir bei meinen Recherchen helfen: Ich möchte wissen, wo meine Mutter Ihre ersten Lebensjahr verbracht hat.Gab es möglicherweise ein Kinderheim dort on der Nähe.Ich wäre Ihnen sehr dankbar dafür, weil ich die Symptome der Kriegsenkel habe, und z.Z. selber mich in einer Klinik für Psychiatrie bin.
    Hoffe, Sie können mir eine positive Antwort senden, uns verbleibe
    mit freundlichen Gruß

    Gabriele Macagnino

    1. Avatar von DocTotte

      Sehr geehrte Frau Macagnino,

      offenbar haben Sie etwas übersehen. Dieser Blog wird nicht von Herrn Kinast geführt. Auch bin ich nicht direkt mit ihm verbunden. Ich kann Ihnen allerdings gern im Laufe des Tages seine Mailadresse zukommen lassen, damit Sie ihn direkt kontaktieren können. Ich weiß allerdings nicht, inwieweit er Ihnen zur Anstalt Warstein weiterhelfen kann, da er sich ja schwerpunktmäßig mit Waldniel beschäftigt hat. (Vielleicht kann er zumindest allgemein Hilfestellung leisten, damit Sie mehr erfahren können.)
      Zusätzlich möchte ich Sie aber noch auf dieses Buch hinweisen: http://www.doctotte.de/2015/07/15/sabine-bode-kriegsenkel/
      Vielleicht finden sie darin auch Aspekte, die für Sie hilfreich sind.

      Beste Grüße

      DocTotte

  3. Avatar von Petra Gust-Kazakos

    Lieber Doc, man kann fast nicht „Gefällt mir“ klicken bei dem Thema, aber ich finde deine Beiträge dazu wirklich sehr lesenswert.

  4. Avatar von Corinna

    Ich finde es super, das Du dieses Thema aufgegriffen hast, wenngleich es mir sehr, sehr leid tut, dass Du und Deine Familie davon direkt betroffen seid. So vieles aus dieser Zeit darf nicht in Vergessenheit geraten. Dazu gehört auch das Thema Euthanasie und die Beschäftigung damit, wie wir im Jetzt und Hier mit kranken Mitmenschen und ihren Familien umgehen sollten.

    1. Avatar von DocTotte

      Bis heute wundert mich am meisten, wie unwirklich es war, darüber zu erfahren. Dass man fast 40 Jahre lebt, ohne so etwas erfahren zu haben.
      Meine Schwester ist schon seit Jahren sehr aktiv im Bereich Behindertenförderung; beruflich macht sie sich schon lange für Inklusion stark, als Hobby ist sie zusammen mit meiner Nichte sehr aktiv in der Hippotherapie sowohl für geistig als auch für körperlich behinderte Kinder und Erwachsene. In manchen Punkten unterstütze ich sie da ein wenig seit Jahren, weil ich ihre Arbeit sehr wichtig finde.

      1. Avatar von Corinna

        Das Engagement Deiner Schwester ist toll! Ich mag Menschen, die sich für Schwächere einsetzen.

        Abgesehen davon glaube ich, dass es in jeder Familie Geheimnisse gibt, die man vielleicht erahnt, aber meistens instinktiv nicht daran rührt. Ich bin mir z.B. sicher, dass meine Großeltern als Kinder im Krieg Erfahrungen gemacht haben, über die sie nicht reden. Manchmal kommen so Andeutungen, bei denen ich nicht sagen kann, ob ich wirklich wissen will, was sie eigentlich meinen.

        Von daher war es auch irgendwie taff von Dir, der Sache auf den Grund gehen zu wollen.

        1. Avatar von DocTotte

          Danke (werde ich auch gern meiner Schwester weiterleiten).
          Ich finde es übrigens schade, dass ich auch erst so spät, und vor allem erst Jahre nach dem Tod mein Großeltern von der eigentlichen Geschichte erfahren habe. Wer weiß, was sie noch alles hätten erzählen können? Aber ich kann auch nachvollziehen, dass meine Mutter so lange brauchte, bis sie darüber sprechen konnte – übrigens im Gegensatz zu ihrem jüngeren Bruder, der von all dem nichts wissen will.

          1. Avatar von Corinna

            Ich denke, Dein Onkel kämpft auch mit seinen Dämonen, wahrscheinlich nur anders.

          2. Avatar von DocTotte

            Es ist natürlich immer schwierig, in andere Leute Köpfe zu gucken, aber ich glaube eher, dass er es verdrängt. Das dürfte ihm auch leichter fallen als meiner Mutter, weil er im Gegensatz zu ihr seinen älteren Bruder nicht bewusst erlebt hat.

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