Mein Vater machte gern Urlaub, am liebsten an der Küste. Wir fuhren oft nach Texel, waren immer wieder in einer Unterkunft einer westfriesischen Familie, die hatten unter anderem einen Sohn, der hieß Elke, weil das nämlich bei den Holländern ein Jungenname ist. Bei einem meiner ersten Urlaube mit 1 Jahr erhielt ich von meinem Vater den Spitznamen Owi. Von diesem Urlaub gibt es irgendwo ein Foto, auf dem ich in die Fensterbank beiße. Alternativ zu Owi nannte mein Vater mich auch Herr Michel Eichhorn, aber diesen Spitznamen erhielt ich erst später. Mir konnte nie erklärt werden, woher genau die Namen kamen oder was sie bedeuteten. Auf Texel habe ich nicht nur Doppelpass gelernt, sondern auch Radfahren. Hier haben wir überhaupt viel gemacht. Radtouren, baden, Ball spielen, in Watt und Priel spazieren, Krabben käschen, auf dem Kutter fahren, Schafe füttern, essen gehen. Aber am meisten verbinde ich Radfahren mit der Insel. Wir fuhren von De Koog zum Leuchtturm, wir fuhren nach Den Burg, wir fuhren nach Oudeschild, wir fuhren durch Kiefernwälder, wie ich sie heute noch liebe, durch Dünen, Moore. Hier wurde mir erzählt, warum man nicht ins Moor fallen darf (weil man nämlich langsam darin versinkt und ertrinkt). Wir fuhren durch Tore über Schafgitter. Meine Schwester und ich lasen die niederländischen Schilder „Dus niet brommen“ und „Fietspad“ und lachten darüber. Wir hatten immer Gegenwind, unsere Mutter war die langsamste und unser Vater nannte sie Schnecke Silberpfeil. Ich ging immer gern in die blödsinnigen Touristenshops und schaute mir den Unsinn an und wollte oft blödsinnigen Unsinn haben wie Springmesserkämme und Gummischlangen. Wir aßen holländisches Fastfood wie Vleeskroketten, natürlich „uit de muur“. Wir aßen Burger und Patatas bei Wimpy’s. Wir aßen bei dem schlechten Chinesen in De Koog, der eine Krankentrage hinten im Lokal stehen hatte (vermutlich aus gutem Grund). Wir pulten kiloweise Krabben, natürlich frisch vom Kutter. Auf der Kutterfahrt bekam ich für einen Gulden auch einen Taschenkrebs und mein Vater besorgte Spiritus oder Ähnliches und wir legten das arme Vieh ein und es starb und trocknete anschließend und roch komisch und stand lange im Regal in unserer Wohnung. Und Windvögel ließen wir steigen am Strand und flogen fast weg dabei. Und wir aßen morgens Bumsbrot von Timmer, dem ersten Bäcker, den wir kennenlernten, der Abreißnummern im Laden hatte, und als das neu war, wurde mein Vater nicht bedient und wunderte sich, dass alle Holländer vor ihm bedient wurden, bis er die Zahlenrolle entdeckte. Oft fuhren wir Kinder mit und mein Vater hielt mein Fahrrad anfangs hinten am Gepäckträger fest, damit ich nicht umfalle. Überhaupt ist das der schönste Moment, den ich kenne: morgens früh bei Wind, blauem Himmel und ein paar Wolken über eine Nordseeinsel fahren, wenn noch kaum jemand wach und auf den Straßen ist. Es gibt nichts Schöneres auf der Welt und ich würde es am liebsten den Rest meiner Tage machen. Und von Timmer fuhr ich zum ersten Mal selbst mit dem Fahrrad zur Wohnung zurück, ohne dass mein Vater mein Fahrrad festhalten musste. Ich fuhr im Wendehammer vor unserer im Souterrain gelegenen Ferienwohnung im Kreis und rief meine Mutter raus, hinter mir mein stolzer Vater, und ich rief „Mama! Ich kann Rad fahren!“ und sie kam heraus, aber ich konnte nicht anhalten und kam erst vom Rad, nachdem ich so langsam gefahren war, dass ich damit umkippte. Und mein Vater fand das lustig, trotz der Schrammen. Und später, da konnte ich schon gut fahren und bremsen und absteigen, wollte mein Vater einen Schmalfilm drehen, wie ich Fahrrad fahren lerne. Aber ich konnte es ja schon. Also musste ich jetzt auf Anweisung herunterfallen, wie es ins Bild passte. Deshalb legte mein Vater einen Stock auf die Wiese im Park nahe der Ferienwohnung und ich sollte hinfallen an der Stelle, an der der Stock lag, und mein Vater filmte. Das klappte mehr recht als schlecht, aber Stuntman wie Colt Seavers später wurde ich trotzdem nicht.
Und wir gingen auch gern ins Pannenkoekenhuis essen, das gibt es heute noch, ist aber nicht mehr so gut. Wenn wir auf Texel angekommen waren, gingen wir zuerst immer zum Fahrradverleih. Einmal liehen unsere Eltern sich ein Tandem und wollten damit fahren, aber sie fielen so oft um, dass sie das Tandem noch am selben Tag umtauschten und sich zwei Gazellen liehen. Und einmal, da war die Wohnung bei den Westfriesen schon ausgebucht, da gingen wir ins Motel, das war aber nicht so schön wie die Ferienwohnung, in der wir sonst waren. Und hinter der Ferienwohnung war eine Wiese, da standen Schafe, ein schwarzes und ein weißes. Und meine Schwester und ich fütterten sie gern, und einmal da waren unsere Eltern abends allein zum Essen gegangen, da verfütterten meine Schwester und ich unser ganzes Brot und die Vermieter lachten, als unsere Eltern wiederkamen und gaben ihnen Brot, denn am nächsten Tag war Sonntag, da bekam man kein Brot damals, nicht mal das weiche Brot. Und wir spielten gern im Urlaub, wenn das Wetter zu schlecht war. Aber wir gingen manchmal auch im Regen an den Strand und wir Kinder liefen in gelben Ostfriesennerzen herum in Westfriesland. Und ich sammelte Muscheln und Steine und warf manche zurück in die See, die graue gischtige See, und einmal stand ich dabei doof und bekam von einer Welle den Sand unter den gummibestiefelten Füßen weggespült und fiel ins flache Wasser und das Wasser lief in meine Stiefel und unter den Ostfriesennerz und ich war nass und musste nach Hause. Aber das war weniger schlimm als ein anderes Mal, als ich noch ganz klein gewesen bin und die Windeln voll hatte und so gestunken habe, dass meine Eltern zur Ferienwohnung fahren mussten, weil es so stank, aber mein Vater wollte vorneweg fahren, weil er nicht in der Duftwolke fahren wollte, die ich hinter meiner Mutter sitzend verursachte. Natürlich erinnere ich mich daran nicht mehr, aber so ist es mir erzählt worden. Aber wir waren nicht nur auf Texel. Wir waren auch in Holstein, in Malente. Da waren wir auf einem Reiterhof nahe dem Immenhof. Und meine Schwester lernte hier reiten, das kann sie gut, und ich lernte es später auch. Und der Besitzer des Hofs, Herr Graage, der erinnerte mich an meinen Opa und mochte mich. Hier lernte ich Freunde kennen, mit denen spielte ich auf dem Hof, auf dem Spielplatz und auf einem Bauplatz, auf dem mir meine Schwester am letzten Urlaubstag aus Versehen ein Brett mit einem Nagel vor den Kopf haute. Zum Schwimmen gingen wir auch, in den Seen und im Schwimmbad Malente. Und wir gingen essen in einem Lokal, da aß ich immer liebend gern rote Grütze. Und hier erzählte mir mein Vater, warum Malente Malente heißt, weil nämlich der Graf eines Tages Ente serviert bekam und ausrief: „Endlich wieder mal Ente!“ Und es war vermutlich auch auf dem Reiterhof, wo mein Vater mir erklärte, warum ein Pferd Pferd heißt: weil es fährt. Und von Malente aus fuhren wir durch Holstein und nach Kiel, weil da die Gorch Fock lag. Und mein Vater trug seine Prinz-Heinrich-Mütze, wie sich das für einen Sozialdemokraten in den 70ern gehörte. Und wir guckten uns die Gorch Fock an, aber durften nicht drauf, weil nur Familienmitglieder der Besatzung drauf durften. Und ich durfte auch später nicht drauf, weil ich untauglich zur Marine war, aber nicht zu anderen Truppen wollte. Dabei mochte mein Vater Segeln, einmal segelte er sogar mit Kollegen auf dem Ijsselmeer und erzählte mir hinterher, wie schief das Segelboot auf dem Wasser fuhr, nämlich so, wie er mit der Hand zeigte. Und Fotos sah ich auch von dem Urlaub, von anderen Urlauben aber auch Filme.
Mein Vater war nämlich Schmalfilmer. Meine Eltern waren 78 in Moskau und Leningrad, wohin reiche Freunde sie eingeladen hatte, aber das durfte niemand wissen, damit es auch ja niemand als Bestechung verstehen könnte. Und hier hatte mein Vater wegen seines Barts am Flughafen Probleme, als ob er ein Terrorist wäre, und in Moskau und Leningrad hat er mit seiner Schmalfilmkamera gedreht, auch da, wo Drehverbot war, indem er heimlich auf den Auslöser drückte, während er die Kamera in Hüfthöhe hielt. Und aus dem Material schnitt er einen Amateurfilm, der in seinem Club so gut ankam, dass er dort und bei anderen Veranstaltungen viele Preise und Urkunden bekam, die jahrelang in der Bar an der Wand hingen.
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