Es gab zwei Situationen in meinem Leben, in denen ich den Zeitpunkt des Todes meines Vaters für gut befunden habe. Die erste Situation war eine schreckliche Kinderei eigentlich. Es muss relativ kurz nach seinem Tod gewesen sein, vielleicht ein halbes Jahr später. Da sagte ich zu meiner Mutter: „Es ist gut, dass er gestorben ist“ und sie fragte: „Warum?“ Und ich verwies darauf, dass er mir kurz vor seinem Tod gesagt hatte, dass er sich einen Citroën kaufen wollte. Bestimmt hatte ich damals eher „Zitröng“ oder so ähnlich gesagt. Dabei war das totaler Quatsch gewesen, sogar aus zwei Gründen. Erstens hatten wir gerade kurz vorher einen Audi 80 gekauft, gebraucht von den Nachbarn unseres Ferienhauses im Westerwald. Es war ein grüner Audi, das kantige Modell der Spätsiebziger. Und zweitens war der Zitröng, um den es ging, eine DS, eine Göttin. Und ich wollte bloß nicht, dass mein Vater sich eine kauft, weil die Familie von Reinhard, einem Kind aus meinem Kindergarten und der Musikschule, zu dem ich eine seltsame Hassliebe pflegte, mit dem ich spielen musste, obwohl ich ihn nur bedingt leiden konnte, weil eben diese Familie eine DS fuhr. Deswegen wollte ich nicht, dass mein Vater sich eine kaufte und deshalb hatte ich es als Achtjähriger meiner Mutter gegenüber aus einer Laune heraus für gut befunden, dass sie mit 42 Witwe geworden war. Damals liefen wir über die Haupteinkaufsstraße in unserem Viertel, über die Rüttenscheider Straße, die sich in den letzten Jahren massiv geändert hat und praktisch nur noch aus Fressbuden, Bäckern und Boutiquen für Klamotten, Handtaschen und Tand besteht.
Das zweite Mal, dass ich mich dazu verleiten ließ, den Zeitpunkt seines Todes positiv einzuschätzen, war ein Vieraugengespräch, das ich mit einer etwas älteren Schülerin führte zum Zwecke, beim AFS, dem American Field Service, aufgenommen zu werden. Das machte man, um ein Jahr als Austauschschüler in den USA zu verbringen. Etwas, das ich mit 16 gern machen wollte. Warum, weiß ich nicht so recht. Ich war wohl unzufrieden mit dem, was ich hatte, und wollte Neues. Um angenommen zu werden, musste man zu einem Vorstellungstag. Ein furchtbarer Tag, der mit einem beknackten Kennenlernspiel begann. Ungefähr 40 bis 50 Leute – Schüler, die in die USA gehen wollte, sowie Exaustauschschüler, die das Jahr hinter sich hatten und für den AFS warben bzw. bei der Auswahl neuer Austauschschüler halfen – saßen im Kreis in irgendwelchen kirchlichen Räumlichkeiten und warfen sich gegenseitig einen Ball zu. Wer warf, durfte vor dem Werfen eine Frage an den Fänger stellen. Die meisten fragte nach Hobbys, Interessen und anderem belanglosen Zeug. Ich fragte mein Wurfopfer, wie ihm dieses Spiel gefiele. Stimmen der Betreuer erhoben sich („ho, ho, ho“), erste Kritik würde laut. Ja richtig, erste Kritik, weil es ein langweiliges Scheißspiel war, das mich genervt hat und vermutlich habe ich hier meine ersten Minuspunkte gesammelt, weil ich schließlich einen ablehnenden Bescheid bekam, der erste in meinem Leben, aber nicht der letzte. Nein, sie hielten mich für ungeeignet für ein Jahr als Austauschschüler in den USA, und ja, das glaube ich heute auch, dass ich dafür ungeeignet war. Ich wäre wohl eher Amokläufer geworden in diesem Scheißland und deshalb war es gut, dass ich in Deutschland bleiben musste. Aber es geht ja noch um die Feststellung, dass der Zeitpunkt des Todes meines Vaters gut war. Nach dem Kennenlernspiel und anderem beknackten Unsinn, mit dem sie versuchten, den Charakter der Delinquenten herauszufiltern, gab es also dieses Vieraugengespräch. Jeder bekam einen Partner oder eine Partnerin an die Seite gestellt, mit dem man durch die Gegend spazierte und dem man erklären sollte, wer man war und warum man in die USA wollte, was man sich erhoffte, was man fürchtete, überhaupt alles, was man so über sich erzählen wollte. Und ich glaube, ich habe mich nie zuvor so ausführlich mit einem Mädchen über Gott und die Welt unterhalten wie bei dieser Stunde an der frischen Luft. Ich kann mich nicht mehr an ihren Namen erinnern, nur noch sehr grob an ihr Gesicht, sie erinnerte mich an die Reitlehrerin, die meine Schwester damals hatte, eine etwas burschikose Frau, die zusammen mit einer anderen Frau lebte, aber großen Wert darauf legte, keine Lesbe zu sein. Es hatte sogar einmal ein Schiedsverfahren gegeben, weil jemand aus dem Stall das behauptet hatte und schließlich vom Schiedsmann dazu verdonnert wurde, eine Entschuldigung fürs schwarze Brett im Stall zu schreiben. An diese Reitlehrerin erinnerte mich das Mädchen vom AFS jedenfalls ein bisschen und vielleicht machte es mir das Reden leichter, dass sie mich an jemand Bekanntes erinnerte, denn ihr sagte ich nun, nachdem sie erfahren hatte, dass mein Vater gestorben war, als ich 8 gewesen war, dass es gut war, dass er nicht später gestorben war, denn so hätte ich ihn noch nicht so viel erlebt gehabt und wäre ihm noch nicht so verbunden gewesen. Wie ich das meinte, fragte sie, und ich erwiderte, dass ich es ja an meiner Schwester sähe, die ihn 4 Jahre länger erlebt hatte und ihm viel tiefer verbunden sei als ich. Das ging so weit, dass meine Mutter bemerkte, dass am Geburtstag meines Vaters jemand jedes Jahr eine rote Rose auf sein Grab legte, und meine Mutter fürchtete, sie könnte von einer unbekannten Liebschaft sein. Jahr für Jahr lag eine Rose da, bestimmt 20 Jahre lang, bis meine Schwester ihr gegenüber zugab, dass die Rose von ihr war, jedes Jahr.
Wie das AFS-Mädchen auf meine Aussage reagierte, weiß ich nicht mehr. Ich kann mich nur noch an zwei Dinge des Tages erinnern. Zunächst war da eine alberne Diskussion, die wir beim AFS in kleinen Gruppen führen sollten. Zu irgendeinem an den Haaren herbeigezogenen Thema, das mich noch mehr langweilte als das Kennenlernspiel. Das zeigte ich ähnlich deutlich, indem ich während der gesamten Diskussion meinen Mund hielt, wenn ich nicht gerade gähnte. Und später, nachdem mich meine Mutter vom AFS abgeholt hatte, fuhr sie mit meiner Schwester und mir zu einem ihrer Cousins, der seinen Geburtstag feierte, und dazu seinen neuen Chef, Nachbarn und frühere Kollegen eingeladen hatte. Eine dieser Kolleginnen, eine Koreanerin, saß bei dem Geburtstag an der Seite ihres Mannes auf der Couch, mehr oder weniger mir gegenüber und trug einen kurzen Rock, eine Strumpfhose und einen weißen Slip, den ich dauernd sehen konnte, weil sie sehr breitbeinig saß. Ich versuchte natürlich, nicht da hinzustarren, aber gerade dadurch hat sich das Bild eingebrannt. Sonst weiß ich nicht mehr viel von diesem unseligen Tag.
Schreibe einen Kommentar