Orlando Figes, Krimkrieg

Es ist erst ein paar Monate her, da spazierte ich mit einer guten Freundin in Köln herum. Wir schauten uns die vielen neu errichteten Häuser an und irgendwann kamen wir auch am Malakoffturm vorbei. Obwohl ich Köln schon seit meiner Kindheit sehr schätze, muss ich gestehen, dass ich bis zum Spaziergang nicht wusste, warum der Turm so hieße. Das erfuhr ich nun auf einer der frisch angebrachten Tafeln: zu Ehren der Eroberung des Forts Malakows in Sewastopol durch französische Truppen im Zuge des Krimkriegs Mitte der 1850er-Jahre.

Bei der Gelegenheit erwähnte ich, dass ich schon länger mal gern mehr über diesen ersten Krimkrieg erfahren würde. Mein Wissen beschränkte sich nämlich auf so dünne Fakten wie: erster moderner Krieg; erster Krieg, von dem Fotografien vorliegen; erster Krieg, der mit modernen Mitteln der Telekommunikation verknüpft war. Aber etwa da hörte es schon auf. Ich wusste nicht mal, so peinlich mir das sein müsste, worum es in dem Krieg überhaupt ging. Lediglich die teilnehmenden Parteien waren mir im Großen und Ganzen bekannt.

Die Freundin hatte nicht nur ein gutes Ohr, sondern auch ein gutes Gedächtnis und schenkte mir kurz darauf zum Geburtstag Figes’ Wälzer. Ich war erfreut, zugegebenerweise aber auch ein wenig überrascht, dass so wenig Fotos abgedruckt waren (da kannte ich aus dem Kopf bereits mehr). Wie dem auch sei – ich las zunächst ein anderes Buch zu Ende und kümmerte mich dann um Figes.

Und was ich hier las, öffnete mir die Augen. Nach und nach entblättert Figes hier ein Panoptikum an Konflikten und Streitigkeiten, das – wie ich zu meinem historischen Entzücken feststellte – praktisch einen Großteil der Geschichte bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus erklärt. Ob man es glaubt oder nicht: Die Gründe und Anlässe für die Katastrophe des Ersten Weltkrieges (und insofern auch für den zweiten), für die Probleme im Nahen und Mittleren Osten, an denen wir heute noch knabbern(!) – sie alle beginnen bereits in den Jahrzehnten vor dem ersten Krimkrieg und werden durch ihn verschärft.

Es ist einfach unglaublich, was in dieser Zeit zusammenkommt: das gefälschte Testament Peters des Großen, in dem quasi die russische Weltherrschaft postuliert wurde; britische Diplomaten, die sich im untergehenden Osmanischen Reich den Landweg zu ihren Kolonien sichern wollten und dabei zu jeder Schandtat bereit waren, übrigens meist mit Handelsinteressen begründet, nur falls das jemanden interessieren sollte (dürfte bekannt vorkommen); die Türkei, die nachweislich die britische Schmutzpresse mitfinanzierte, um die britische Regierung durch die Bevölkerung unter Druck zu setzen; Napoleon III., der dringend politische Erfolge brauchte und im Zuge des Krieges bzw. im Anschluss in Italien so mitmischt, dass er Frankreich wieder vergrößern kann; Österreich-Ungarn, das sich Ende der 1840er-Jahre im Zuge polnischer Revolten von den Russen noch den Arsch retten ließ, um Moskau kurz darauf wie eine heiße Kartoffel fallenzulassen (nach dem Krimkrieg sinkt Österreich-Ungarn in die Bedeutungslosigkeit: Der Entschluss, keiner Seite beizustehen, sorgt schließlich dafür, dass das Land für länger als ein halbes Jahrhundert bei Kriegen ohne Verbündete bleibt und immer stärker schrumpft); Frankreich und England beginnen im dahinsiechenden Osmanischen Reich mitzumischen, namentlich in Persien und Arabien; auch die modernen Konflikte im Kaukasus inklusive Tschetschenien gab es fast durchweg schon damals – ach, ich könnte endlos so weitermachen hier!

Allerdings möchte ich auch nicht verschweigen, dass es das ein oder andere gab, was mich am Buch gestört hat. Zunächst die technischen Sachen. Ich hasse Bücher, die mit Endnoten arbeiten, die am Ende nach Kapiteln sortiert jeweils mit 1 beginnen und nicht durchzählen. Auf diese schwachsinnige Idee können auch nur Leute kommen, die nie mit Fußnoten gearbeitet haben.

Am Anfang des Textes sind ferner mehrere Karten abgebildet: vom Schwarzen Meer, von einzelnen Schlachten und Belagerungen. Erstens nervt es mich, dass die Karten nicht da gedruckt sind, wo man sie braucht. Zweitens sind die Karten miserabel bearbeitet: sehr viele Orte, die im Text wichtig erscheinen, sind schlicht nirgendwo verzeichnet. Und drittens fehlen einfach sinnvolle Karten. Warum gibt es beispielsweise keine einzige Karte, die mal die ganze Krim zeigt?

Inhaltlich möchte ich ferner noch anmerken, dass insbesondere der Anfang auffallend russlandfreundlich formuliert ist. Ich weiß auch, dass das eine Kritik ist, die dem am Londoner Birkbeck-College lehrenden Figes vorgeworfen wird. Dabei ist der Witz, dass er einfach nur die historischen Tatsachen für sich sprechen zu lassen braucht. Sie sind entlarvend genug. So beschwert sich Zar Nikolaus in einer Notiz über die Doppelmoral des Westens, der sich selbst exakt all das erlaubt, was er Russland verbieten will – bei wem es hier nicht im Oberstübchen Sturm klingelt, der hat die letzten Jahrzehnte keine einzige Nachricht mitbekommen!

Kurz, der Figes ist eine wahre Fundgrube für jeden Leser, der das Geschehen der Moderne verstehen und mehr über die Geschichte Europas erfahren möchte.

PS: Ganz nebenbei bin ich mir ferner darüber bewusst geworden, welchen Einfluss die kriegerischen Auseinandersetzungen im nördlichen Orient auf die Literatur hatte. Als ich parallel zum Figes Flauberts Gemeinplätze las, stolperte ich über eine Reihe von Begriffen und Gemeinplätzen, die direkt aus diesem Krieg stammten. Auch ging mir ein Licht auf, wie es ein paar Jahrzehnte später dazu kommen konnte, dass ein Engländer namens Stoker auf die Idee kommt, von einem Grafen Draculea zu erzählen. Das Vorspiel zum Krimkrieg in den Fürstentümern Walachei und Moldau ist der Startschuss dafür, dass sich die Briten im östlichen Donauraum umtun. In dieser Zeit dürften über Soldaten und Diplomaten also zahlreiche Einflüsse aus der Gegend zwischen Balkan und Schwarzem Meer nach Großbritannien gelangt sein (zu Bestätigung dieser Theorie sollte ich allerdings bei Gelegenheit eine Stoker-Biografie konsultieren).


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