Ich muss gestehen, dass ich überhaupt nicht abschätzen kann, wie bekannt das Phänomen Knausgård inzwischen in deutschsprachigen Leserkreisen ist. Ich selbst bin durch einen längeren Artikel von Mikael Krogerus auf Knausgård aufmerksam geworden. Krogerus wies bereits ausführlich auf die Ursachen hin, die für die Sonderstellung Knausgårds Großwerk in Skandinavien verantwortlich sind. Spätestens jetzt sollte ich aber die Leser ins Boot holen, die Knausgård bislang noch nicht kennen.
Knausgård hat ein literarisches Experiment durchgeführt, das es in dieser Form wohl eher selten geben wird. Er schrieb in sechs Bänden unter dem Titel „Min kamp“ (richtig, mein Kampf), einen Großteil seines Lebens nieder, und zwar möglichst ungeschönt. Das betrifft ihn selbst, das betrifft aber auch Familie, Freunde, Freundinnen, Frauen und eigene Kinder. Wenn man sich die Rechtsstreitigkeiten der letzten Jahre in Deutschland anschaut, dürfte klar sein, dass so eine Schilderung hier klagewürdig wäre. In einem so kleinen Land wie Norwegen aber, in dem über zwei Ecken jeder jeden kennt, kann es eine Katastrophe für manchen Betroffenen sein.
Trotz dieses inhaltlichen Kniffs dürften sich die meisten Leute fragen: Ja und? Wer ist schon dieser Knausgård und warum soll mich sein Leben interessieren?
Tja, Knausgård mag für jeden Nichtnorweger uninteressant sein. Interessant wird die Schilderung meines Erachtens aber durch die Echtheit. Natürlich bezweifle ich nicht, dass auch diese Echtheit gefiltert ist. Kein Mensch erträgt seine Biografie ohne subjektiven Filter. Die Frage ist nur, wie ehrlich ist man zu sich selbst – und wie viel dieser Ehrlichkeit traut man sich nach außen zu tragen? Und in dieser Mutprobe dürfte Knausgård neue Maßstäbe setzen.
Vielleicht braucht man eine voyeuristische Ader, um so etwas interessant zu finden. Auf jeden Fall empfand ich eine Leseprobe aus Band drei interessant. So unerheblich der Inhalt war, so atemlos empfand ich die Lektüre. Ich konnte nicht aufhören, die Probe zu lesen, obwohl sie faktisch nichts enthielt, was ich im üblichen Sinne interessant finde. Schließlich kaufte ich Band eins, der in Deutschland unter dem Titel Sterben erschienen ist. Darin befasst Knausgård sich in zwei Teilen mit seinem Vater und dessen Tod. Im ersten Teil erzählt Knausgård aus der eigenen Kindheit und vom schwierigen Verhältnis zu seinem Vater. In zweiten Teil ist der Vater gestorben. Knausgård schildert, wie er sich gemeinsam mit seinem Bruder um die Beerdigung und die damit zusammenhängenden Probleme kümmert.
Das Buch spaltet mich. Ja, ich wollte immer weiterlesen und immer mehr wissen über Knausgårds Leben. Aber immer wieder bricht Knausgård solche Lesestrudel mit irgendwelchen manchmal tiefsinnigen, häufiger aber auch nervigen Überlegungen über die Welt, die Menschen, die Musik, die Kunst und – die Literatur. Über Dutzende Seiten habe ich mich gefragt, wann es endlich mit dem Kindheitstratsch weitergeht.
Eine von Knausgårds Quatschüberlegungen war besonders bemerkenswert. Da sinniert er darüber, was in der Literatur wichtiger sei: die Form? Der Stil? Der Inhalt? Knausgård meint: die Form. Sie regiere über alles. Stil und alles andere machten dagegen Literatur kaputt, wenn sie sich zu sehr in der Vordergrund drängten. Nun möchte ich an dieser Stelle nicht ausschließen, dass Knausgård und ich (oder Übersetzer/Lektorin und ich, aber dazu später mehr) unter Form verschiedene Dinge verstehen. Denn für mich ist sicher, dass Form garantiert nicht das Wichtigste ist bei guter Literatur. Im Gegenteil: Autoren, die die Form sich vordrängeln lassen, folgen gewöhnlich lediglich irgendwelchen dämlichen Moden, die spätesten nach ein paar Jahren so spannend sind, wie ein Millionen Jahre geschliffener Kiesel Spitzen hat.
Übrigens ist die Form bei Sterben noch nicht einmal besonders. Knausgård erzählt – wie auch sonst? – aus der Ich-Perspektive, springt natürlich ein bisschen durch die Zeiten, stellt sich aber größtenteils als sensibler Außenseiter dar, der zum Glück geworden ist, was er geworden ist. Also sind Form und Inhalt eigentlich wenig originell. Und um gleich weiterzumotzen: Auch der Stil ist so aufregend wie der erwähnte Kieselstein. Ehrlich, Knausgård ist in Sterben und auch in der Leseprobe aus Band drei als Autor furchtbar langweilig – und zu meinem Erstaunen funktionierte das Buch trotzdem bei mir. Ich wollte es lesen. Aktuell kann ich mich aber nicht dazu durchringen, mir einen weiteren Band zu kaufen. Aber vielleicht ändert sich das ja noch.
So, und jetzt noch ein Wörtchen zum Gespann Paul Berf (Übersetzer) und Regina Kammerer (Lektorat). Im Großen und Ganzen enthielt das Buch angenehm wenig Fehler (z.B. „langam“ statt „langsam“). Aber in Details musste ich mich über eine Reihe von Fehlern wundern, die ich einfach nur ärgerlich finde. Leider kann ich in Teilen nicht sicher sagen, ob sie eher dem Übersetzer oder eher dem Lektorat anzulasten sind, daher bin ich leider genötigt, mit der Schrotflinte der Wut breit gestreut in beider Richtung zu schießen.
Trotz der insgesamt geringen Fehlerquote fiel u.a. auf, dass einige Kommata und Anführungszeichen eher kreativ verteilt sind. „Jedesmal“ war jedes Mal falsch geschrieben, außerdem sollten Übersetzer/Lektorin sich bei Gelegenheit intensiv mit dem Unterschied zwischen Oh und O und der damit verbundenen Kommasetzung befassen! Enorm nervig fand ich ferner, wie norwegische Wendungen oder Wortbildungen Eingang in die deutsche Übersetzung fanden: Auf Deutsch fährt man in und nicht auf ein Trainingslager. Die Schreibweise von Straßennamen hat mich aber schließlich zur Weißglut gebracht. Natürlich kann man sich bei einer Übersetzung darüber streiten, wie man fremdsprachige Straßennamen schreibt. Aber für die Schreibung von fremdsprachigen Namen gibt es eben auch Regeln, und die kann man auch beachten. In Sterben missbrauchen Übersetzer und Lektorin dagegen für die deutsche Fassung zig mögliche norwegische Formen und Schreibweisen, die im Deutschen entweder falsch oder aber schwachsinnig sind – vor allem sind sie aber eins nicht: einheitlich.
Mal wird das norwegische Wörtchen für Straße (vom Wortstamm eigentlich „Gasse“) groß-, mal kleingeschrieben. Mal ist es vom Straßennamen getrennt-, mal zusammengeschrieben (und ja, das gibt es im Deutschen ebenfalls, aber auch dazu gibt es Regeln). Mal übernimmt die deutsche Fassung den norwegischen bestimmten Artikel nicht, mal schon, und das, obwohl zusätzlich der deutsche bestimmte Artikel da steht.
Ich erwarte ja nicht, dass die Lektorin genau wie der Übersetzer des Norwegischen mächtig ist, um sowas beurteilen zu können.* Aber sie hätte in jedem Fall darauf pochen müssen, dass solcher Blödsinn wenigstens einheitlich gelöst wird und nicht auch noch innerhalb eines Satzes wechselt!
Genug der Erbsenzählerei. Zusammenfassend kann ich keine eindeutige Leseempfehlung geben. Vieles am Buch war sehr interessant, vieles hat mich aber auch unendlich genervt. Wer meinem Geschreibsel ansatzweise Interesse abgewinnen kann, sollte wenigstens einmal bei Knausgård hineinschnuppern.
* Nebenbei, mein Norwegisch ist ebenfalls bescheiden; aber mit diesen bescheidenen Kenntnissen und einer kleinen Recherche war klar, dass hier Unsinn steht.
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