Wie ich neulich schon kurz erzählte, lese ich derzeit Johnsons Jahrestage (deren Besprechung wird sicher noch etwas dauern, weil ich das Buch in sehr kleinen Häppchen genieße und sich die Lektüre angesichts der zahlreichen Seiten noch über einige Wochen oder Monate hinziehen wird). Ich hatte die Jahrestage kaum angefangen, da hatte ich günstige Gelegenheit, einen weiteren Johnson zu erwerben. Als ich – bis dahin noch ahnungslos – erfuhr, dass die Mutmaßungen im Universum derselben Protagonisten spielen, dachte ich: Perfekt – ein dünnes Buch für die Bahn, das die Jahrestage inhaltlich ergänzt.
Die Mutmaßungen, das kann ich an dieser Stelle gleich verraten, hat Johnson recht früh geschrieben. Es war sogar die erste größere Veröffentlichung (wenn auch nicht sein erstes Buch, denn das wurde erst postum verlegt). Vor Beginn der Lektüre hatte ich zumindest schon mitbekommen, dass die Kritik sehr gespalten reagiert hatte, als die Mutmaßungen Ende der 50er-Jahre erschienen waren. Karlheinz Deschner verriss es wegen sprachlicher Mängel, Hans Magnus Enzensberger lobte es über den Klee als Detektivroman zum Mitmachen. Wer sich jetzt wundert, dass ich das erzähle, wird sofort den Grund erfahren. Denn ich selbst war beim Lesen sehr gespalten:
Johnsons Schreibe ist in den Mutmaßungen oft verstümmelt, Zeichensetzung findet seltener statt als eigentlich nötig. Und trotzdem blüht hin und wieder eine Formulierung auf, die zeigt, dass es kein Unvermögen war, sondern dass Johnson hier sehr bewusst geschrieben hat, wie er geschrieben hat. Und trotzdem gab es etliche Seiten, bei denen meine Gedanken einem anderen bekannten Schreiber und Literaturkritiker galten: Kurt Tucholsky.
Der hatte nämlich 1927 in der Weltbühne unter dem Pseudonym Peter Panter die Goyert-Übersetzung des Joyce’schen Ulysses besprochen. Diese unterhaltsame Kritik kulminierte in der Aussage:
„Hier ist entweder ein Mord geschehen oder eine Leiche fotografiert.“
Ich weiß nicht, wie oft ich beim Lesen der Mutmaßungen an diesen Satz gedacht habe. Aber es war sehr häufig. Das lag häufig daran, dass es ganze Absätze gibt, bei denen man nur durch längeres Nachdenken erfährt, wessen Sicht sie gerade schildern. Das mag dem Leser, der einen Text strukturalistisch auseinander nimmt, große Freude machen. Mich, der ich meist in der Bahn als Wortgourmand lese, hat es einige Male zu oft geärgert. Völlig verwirrt stolperte ich durch Sätze, mutmaßte diesen oder jenen Charakter hinter den Aussagen, nur um am Ende der Seite zu erfahren, dass es doch wieder jemand anders war. Und es hat mich übrigens noch aus einem anderen Grund geärgert: Die Parallellektüre der Jahrestage verriet mir, dass Johnson diese Sprünge auch deutlich besser beherrschte (jedenfalls später in seiner Karriere). Hier hopst er zwar auch innerhalb eines Absatzes durch drei Epochen und die Leben von acht Figuren – aber man merkt es wenigstens beim Lesen und braucht die Puzzlestücke im Kopf lediglich zu sortieren. Aber halt! Dies ist noch nicht die Zeit, die Jahrestage zu besprechen! Noch geht es um die Mutmaßungen. Und mein Fazit dazu lautet: ein interessantes Stück deutscher Literaturgeschichte – aber Lektürespaß ist was anderes.
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